Warum diesen Text lesen…
Dieser Text lädt Sie dazu ein, über folgende Fragen nachzudenken: Was sind kulturelle Praktiken und wie lassen sich diese verstehen? Warum tun Menschen die Dinge, die sie tun? Ist „Kultur“ die geeignete Erklärung für das Verhalten von Menschen, oder gibt es treffendere Erklärungen, um dies zu beschreiben? Und wie äußern sich diese Fragen im Schulumfeld? In den kommenden Abschnitten werden diese Fragen Stück für Stück beantwortet. Dafür wird zuerst die geschichtliche Entwicklung der Frage, warum Menschen das tun was sie tun, nachgezeichnet. Nach der Diskussion wird abschließend ein Beispiel aus dem Schulunterricht beschrieben. Dies soll Ihnen die Wichtigkeit, aber auch die Problematik der Fragen im Schulumfeld veranschaulichen.
Historischer Kontext
Wenn wir uns heute mit der Frage beschäftigen, warum Menschen tun was sie tun, so ist es enorm wichtig, sich Folgendes vor Augen zu halten: Wissenschaftliche Erklärungsversuche von menschlichem Verhalten besitzen eine jahrhundertealte Geschichte und diese Geschichte hat un/bewusst großen Einfluss auf unsere heutigen Annahmen und Haltungen. So haben seit ihrem Entstehen wissenschaftliche Forschungen die öffentliche Meinung mitgeprägt, jedoch stellten sich in der Wissenschaft oft ganze Erklärungsmodelle als falsch heraus und wurden fallengelassen. Dennoch sind darauf basierende Meinungen und Haltungen weiterhin in der Gesellschaft verbreitet. Auch wenn diese wissenschaftlich längst widerlegt sind, leben sie in den Menschen weiter. Dementsprechend ist ein kurzer Blick in die Geschichte zwingend notwendig, um sich mit heutigen Fragestellungen auseinander zu setzen.
Als erstes lässt sich hier die Wissenschaft seit ihrer Entstehung beleuchten. Ausgehend von den im 18ten Jahrhundert aufkommenden Naturwissenschaften der Biologie, Chemie oder Botanik - mit Charles Darwin als zentraler Figur - orientierten sich die später aufkommenden Sozialwissenschaften zuerst einmal an diesen. So wurden anfangs Modelle aus der Tier- und Pflanzenwelt auf Menschen übertragen, und in Darwin´schem Vokabular Menschen in „Rassen“ unterteilt, „Subspezies“ identifiziert oder die vermeintliche „Reinheit“ bzw. „Vermischung“ verschiedener Gruppen thematisiert. Dies führte dazu, dass die Frage, warum Menschen das tun was sie tun, mit einer simplen Erklärung beantwortet wurde: aufgrund ihrer Genetik. Dieses Erklärungsmodell wird auch als biologistisches Erklärungsmodell bezeichnet - es führt kulturelle Diversität auf biologische Merkmale und Veranlagungen zurück, unterschiedliche Lebensweisen werden mit genetischen Unterschieden erklärt. Nicht zuletzt aufgrund der fatalen Verwendung dieses Modells durch den Faschismus wurde dieser Erklärungsversuch innerhalb der Wissenschaft stark kritisiert und letztlich widerlegt. Kulturelle Praktiken sind nicht in unserer DNA angelegt und soziale Unterschiede nicht genetisch bedingt.
Innerhalb der Kritik an dem biologistischen Erklärungsmodell entwickelte sich ein zweites Erklärungsmodell, welches von Anthropolog*innen in den 1920ern geprägt wurde. Die Grundidee hierbei lautete, dass der Mensch weniger von Geburt an, sondern durch das Aufwachsen in Gesellschaften geprägt wird und dementsprechend handelt. In dieser Perspektive spielt der Begriff „Kultur“ eine große Rolle, der die jeweilige soziale Umwelt beschreibt. Die herrschenden Werte, Normen, Weltsichten und Glaubensvorstellungen werden von uns verinnerlicht. Die jeweilige lokale „Kultur“ bestimmt unsere Handlungen und Sichtweisen. Die Frage, warum Menschen das tun, was sie tun, wird hier mit einer anderen Erklärung beantwortet: aufgrund ihrer Kultur. Diese Sichtweise, den Menschen als kulturelles von seinem Umfeld geformtes Wesen zu sehen, wird als kulturalistisches Erklärungsmodell bezeichnet und ist bis heute in der Öffentlichkeit allgegenwärtig.
Während diese Sichtweise zwar das überholte biologistische Erklärungsmodell ablösen konnte, tappt es dennoch im die gleiche „Falle“: Noch immer werden vermeintliche Gruppen –damals durch Genetik, nun durch Kultur miteinander verbunden – identifiziert, welche ähnliche Handlungsmuster und Sichtweisen teilen und in sich geschlossen sind. Problematisch dabei ist, dass dieses Modell nach wie vor sehr vereinfachend ist, da es Menschen auf ihren kulturellen Hintergrund reduziert. Sowohl wissenschaftliche Forschungen als auch Alltagserfahrungen aus dem eigenen Leben zeigen, dass Menschen komplex sind, und immer eine gewisse Gestaltungsfreiheit in ihrem Leben besitzen. Viele Dinge aus unserer Gesellschaft übernehmen wir unbewusst, gleichzeitig lehnen wir auch viel ab und gestalten so unsere eigene Lebensweise. Oft ist es auch so, dass sich Sichtweisen innerhalb von Gruppen massiv unterscheiden können und Trennlinien nicht zwischen kulturellen Gruppen, sondern vielmehr zwischen Individuen verlaufen. Seit den 1970er Jahren herrscht in der Wissenschaft eine rege Diskussion darüber, wie man diese Komplexität von menschlichem Zusammenleben verstehen und erklären kann, ohne allzu vereinfachende Modelle zu benutzen. Die aktuellen Strömungen im Detail zu beschreiben würde den Rahmen sprengen, für unsere Zwecke hier wird lediglich ein mögliches Erklärungsmodell genannt.
Diskussion
Was bisher klargeworden sein sollte ist, dass wir sicherlich tief geprägt durch unsere Herkunft und unsere Erfahrungen sind, aber gleichzeitig auch viele Gestaltungs- und Wahlmöglichkeiten haben. Wir sind mehr als unser kultureller Hintergrund, sondern definieren uns durch unsere Entscheidungen und Handlungen. Dieser Fokus auf Handlungen wird wissenschaftlich auch als praxeologisches Erklärungsmodell bezeichnet, da es zunächst auf die konkrete Praxis von einzelnen Individuen schaut anstatt im Vorhinein Gruppen zu definieren. Der generelle aktuelle Stand der Wissenschaft, selbst wenn andere Erklärungsmodelle als das praxeologische verwendet werden, lautet grob gesagt, dass Menschen komplex sind – d.h. nicht auf einen Aspekt ihrer Identität reduziert werden können, sondern vielschichtig denken und handeln.
Somit lassen sich kulturelle Praktiken nun besser fassen. Inhaltlich umfasst der Begriff die komplette Bandbreite an kulturellen Ausdrucksformen, sei es Fasching in Oberösterreich oder der Día de Muertos in Mexiko-City, seien es Sonntagsmessen in München oder das Freitagsgebet in Medina. Auch weniger offensichtliche Praktiken zählen dazu, so lässt sich auch die Notengebung und generell die Institution Schule als eine spezifische kulturelle Praktik verstehen – Begriffe wie „Bildung“, „Allgemeinwissen“ oder „Leistung“ sind kulturell geprägt. „Kulturell“ in dem Kontext bedeutet generell, dass wir den Sinn und den Grund für die Ausübung in unserem sozialen Umfeld gelernt haben, bei „Praktiken“ geht es neben der reinen Ausübung auch darum, dass immer eine dynamische Mitgestaltung vorhanden ist. So können sich beispielsweise Rituale um den 24. Dezember im deutschsprachigen Raum massiv voneinander unterscheiden, Gründe sind dann vielleicht die verschiedenen Gewohnheiten in verschiedenen Haushalten oder eine bewusste Distanzierung von den Traditionen der vorherigen Generation. Problematisch ist jedoch, dass kulturelle Praktiken oft mit einem nationalen Territorium assoziiert werden und sich so nationale Vorstellungen einer dominanten und „richtigen“ Leitkultur entwickelten. In einer Welt, die schon immer von Migration und Globalisierung gekennzeichnet war, kann dies zu Konflikten führen, da so Hierarchien geschaffen werden und verschiedene Gruppen ausgeschlossen werden. Besonders brisant ist dies im Schulkontext, wenn verschiedene Verständnisse und Erfahrungswelten aufeinanderprallen, wie im folgenden Beispiel.
Praktisches Beispiel
Die Forschung der Erziehungswissenschaftlerin Avihu Shoshana (2017) zeigt diese Problematiken im Schulkontext auf. Der Ansatz ihrer Forschung war, eine Schulstunde im Fach Gemeinschaftskunde an zwei verschiedenen Schulen in Israel zu vergleichen, welche sich vom sozioökonomischen Hintergrund der Kinder her stark unterscheiden. Thematisch vom Lehrplan vorgegeben ist die Lektüre und Diskussion des Buchs „Brauner Morgen“, einer französischen politischen Fabel von Franck Pavloff 1. Während die erste Schule überwiegend von Kindern der „Narkis“-Community besucht wird – einer wohlhabenden Gemeinde mit sogenanntem Ashkenazim-Hintergund (aus Europa stammende jüdische Gruppen) wird die zweite Schule von Kindern der „Tavor“-Community besucht, einer ökonomisch schwachen Community mit sogenanntem Mizrahim-Hintergrund (aus dem Nahen Osten, Asien und Afrika stammende jüdische Gruppen) besucht. Alle Lehrer*innen, die in der Forschung befragt wurden, verfügten über einen Ashkenazim-Hintergrund. Shoshana beschreibt „dramatic differences in school routines“ (2017:65) in der Diskussion über das Buch in den jeweiligen Klassenzimmern der beiden Schulen. Besonders auffällig waren zwei Dinge: die unterschiedliche Interpretation des Inhalts durch die Schüler*innen und die unterschiedlichen Reaktionen der Lehrer*innen, was zu einer völlig unterschiedlichen Dynamik im Unterricht in den verschiedenen Schulen führte.
Während die Schüler*innen der wohlhabenden Narkis-Community das Buch als eine eindrucksvolle Erzählung aus der Vergangenheit sahen, sprachen die Schüler*innen der Tavor-Community in der ersten Person über ihre Erfahrungen mit Rassismus und thematisieren persönliche schmerzhafte Eindrücke. Weiterhin waren die Schüler aus Tavor vor allem mit den Bedingungen beschäftigt, die Rassismus und Ungleichheit im Buch förderten und nicht mit dem Fehlverhalten der Protagonisten. Vonseiten der Lehrer*innen wurde jedoch kein Raum gegeben, die persönlichen Erfahrungen und damit aufkommenden Emotionen im Unterricht zu diskutieren. So entwickelte sich ein Konflikt in der Tavor-Schule, in welchem die Schüler*innen den Lehrer*innen vorwarfen, ihre Welt nicht zu sehen und ihnen eine Interpretation des Buches aufzwingen zu wollen. Im Kontrast dazu lief die Diskussion in der Narkis-Schule reibungslos ab – die Reaktionen der Schüler*innen waren eher intellektuell und weniger emotional, so verknüpften sie die Inhalte nicht mit Erfahrungen, sondern zu bereits gelesenen Büchern. In der Narkis-Schule empfanden die Lehrer*innen die Schulstunde als vollen Erfolg, wohingegen Lehrer*innen der Tavor-Schule die Stunde als fehlgeschlagen betrachteten.
Hier argumentiert Shoshana, dass die Problematiken in der Tavor-Schule nicht die Schuld den Schüler*innen sind. Vielmehr geben die vorgegebenen Themen des Lehrplans sowie das Verhalten der Lehrer*innen eine enge Interpretation vor, in der sich die Schüler*innen nicht gesehen fühlen und weitere Diskussionen verweigern, da ihre Emotionen und Sichtweisen nicht anerkannt werden. Dies ist kein Einzelfall, sondern basiert auf einem nationalen Bildungssystem, welches eine Sichtweise bevorzugt und nicht dafür ausgerichtet ist, alternative Erfahrungen von kulturellen Gruppen einzubinden. Aus einer praxeologischen Perspektive wurde hier durch die konkrete Ausführung der Schulstunde die Vielschichtigkeit der Schüler*innengruppen ignoriert und lediglich eine Sichtweise bevorzugt, nämlich die der mehrheitlichen Ashkenazim-Gruppe. Die kulturelle Differenz zur Mizrahim-Gruppe, die durch die kulturelle Praktik der Schulstunde gefestigt wurde, basiert nicht auf natürlichen Unterschieden, sondern auf unterschiedlichen sozialen Erfahrungen. Somit bleibt abschließend darauf hinzuweisen, dass kulturelle Praktiken mehr als nationale oder familiäre Traditionen sind, sondern eng verbunden mit Erfahrungswelten, Persönlichkeit und Sichtweisen sind. Diese Komplexität erfordert eine Sensitivität, andere Welten als die eigene wahrnehmen zu können, im Schulunterricht wie anderswo.
Weiter denken:
Wie haben mich die vorherrschenden Werte und Sichtweisen in meinem Elternhaus geprägt?
Habe ich selbst Konflikte erlebt zwischen den Werten und Sichtweisen in meinem Elternhaus und dem, was in der Schule von mir verlangt wurde?
Inwieweit unterscheiden sich die Erfahrungshintergründe meiner Schüler*innen von mir?
Bin ich in der Lage, die Lebensrealitäten meiner Schüler*innen nachzuvollziehen und persönlichen Erfahrungen im Unterricht Raum zu geben?
Wie oft erlebe ich Irritationen im Unterricht? Führe ich das auf kulturelle Verschiedenheiten zurück?
KEY-WORDS/ CROSS-REFERENCES
Reflexivity, Doing School,
Shoshana, A. (2017). Ethnographies of “A Lesson in Racism”: Class, Ethnicity, and the Supremacy of the Psychological Discourse. Anthropology & Education Quarterly. 61-75.
Weiterführende Literatur
Ortner, S. (2006). Anthropology and Social Theory: Culture, Power, and the Acting Subject. Durham, NC: Duke University Press.
Abu-Lughod, L. (1991). “Writing Against Culture”. In: Fox, Richard G. (Hg.) Recapturing Anthropology: Working in the Present. Santa Fe, S. 137–162.
Autor*innen:
Paul Spermeac-Wolfer, Christa Markom, Jelena Tosic
1 Es handelt sich um eine politische Allegorie, die den Prozess beschreibt, in dem die zwei Protagonisten einem totalitären Regime erlauben, die Kontrolle über ihr Leben zu erlangen. Erstens verbieten die Behörden den Besitz von Hunden oder Katzen, die nicht braun sind. Nach und nach entstehen neue Gesetze, darunter die Verwendung des Wortes "braun" am Ende eines jeden Satzes. Die beiden Protagonisten finden unterschiedliche Gründe, diese immer drastischeren Gesetze zu akzeptieren. Erst zu spät wird ihnen klar, dass sie Opfer einer tyrannischen Regierung geworden sind und die Möglichkeit zum Widerstand verschwindet.
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